Peter Ullrich, Universitat Koblenz, Fachbereich 3, Mathematisches Institut.

Am 23. Dezember 1873 vollendete Georg Cantor (1845-1918), Jahrzehnte später Gründungsvorsitzender der DMV, eine kurze Arbeit "Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen“ [1]. Obwohl er zu jener Zeit bereits als Extraordinarius in Halle wirkte, ist deren Text mit der Ortsangabe "Berlin“ versehen, wo Karl Weierstraß (1815–1897) Cantor zum Verfassen der Arbeit veranlasst hatte, wie letztgenannter zwei Tage später Richard Dedekind (1831–1916) brieflich mitteilte [8, S.16–17]. Diese wurde im darauffolgenden Jahr 1874 im Journal für die reine und angewandte Mathematik veröffentlicht.

 Cantor 1870

Georg Cantor im Jahr 1870. Aus einem Fotoalbum eines Mitglieds der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg, auch im Foto-Archiv des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach, Photo ID: 10525

 

Zum Inhalt  von Cantors Artikel

 In §.1 seiner Arbeit zeigte Cantor, dass [1, S.258–259] "der Inbegriff (ω) [der reellen algebraischen Zahlen] in der Form einer unendlichen gesetzmäßigen Reihe:

(2.)    ω1,ω2,···ων,···

gedacht werden kann, in welcher sämmtliche Individuen von (ω) vorkommen und ein jedes von ihnen sich an einer bestimmten Stelle in (2.), welche durch den zugehörigen Index gegeben ist, befindet“,

dass also die Menge der reellen algebraischen Zahlen abgezählt werden kann. (Cantor verwendete an dieser Stelle nicht den Begriff "Menge“ oder "Mannigfaltigkeit“, sondern sprach durchgängig vom "Inbegriff“ der reellen algebraischen Zahlen (ω), bzw. dem der natürlichen Zahlen, (ν). Zum Inhalt von §2 führte er danach aus [1, S.259]:

Um von dieser Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen eine Anwendung zu geben, füge ich zu dem §.1 den §.2 hinzu, in welchem ich zeige, dass, wenn eine beliebige Reihe reeller Zahlgrößen von der Form (2.) vorliegt, man in jedem vorgegebenen Intervalle (α···β) Zahlen η bestimmen kann, welche nicht in (2.) enthalten sind; combinirt man die Inhalte dieser beiden Paragraphen, so ist damit ein neuer Beweis des zuerst von Liouville bewiesenen Satzes gegeben, dass es in jedem vorgegebenen Intervalle (α···β) unendliche viele transcendente, d.h., nicht algebraische reelle Zahlen giebt.“

 Er präsentierte seiner Leserschaft das Resultat, dass die reellen Zahlen in einem Intervall positiver Länge (also insbesondere alle reellen Zahlen) nicht abgezählt werden können, also primar als Hilfsmittel, um erneut die Existenz unendlich vieler reeller transzendenter Zahlen nachzuweisen. Dies war Joseph Liouville (1809–1882) bereits 1844 gelungen durch Betrachtung der heutzutage nach ihm benannten Zahlen, welche sich extrem gut durch rationale Zahlen annähern lassen.

Direkt im Anschluss an das obige Zitat erwähnte Cantor allerdings auch, dass die Nicht-Abzaählbarkeit der reellen Zahlen der Grund dafür sei "warum Inbegriffe reeller Zahlgrößen, die ein sogenanntes Continuum bilden (etwa die sämmtlichen reellen Zahlen, welche  ≥ 0 und  ≤ 1 sind) sich nicht eindeutig auf den Inbegriff (ν) [der natürlichen Zahlen] beziehen lassen“ [1, S. 259].

Zum "Unendlichen“ vor Cantor

Die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Unendlichen geht mindestens auf den griechischen Philosophen Anaximander (um 610 – nach 547 v.Chr.) zuruck. (Der Kürze halber wird die damit im Zusammenhang stehende Problematik des Kontinuums, die im Anschluss an Zenon von Elea (um 490 – um 430 v.Chr.) diskutiert wird, trotz des obigen Zitates im Folgenden nicht behandelt.)

Spätestens seit Aristoteles (384–322 v.Chr.) unterschied man zwischen dem Konzept des aktual Unendlichen – dass Objekte unendlicher Mächtigkeit wirklich zu einem festen Zeitpunkt existieren – und dem des potentiell Unendlichen – dass zu einem bestimmten Zeitpunkt nur eine endliche Anzahl von Elementen existieren bzw. vorgestellt werden kann, auch, wenn die Elemente insgesamt eine unendliche Gesamtheit ergeben. In moderner Terminologie lasst sich dies verdeutlichen anhand des Unterschiedes der Existenz der unendlichen Menge der natürlichen Zahlen und der Möglichkeit, zu jeder natürlichen Zahl eine größere zu finden, so dass jede endliche Menge von natürlichen Zahlen vergrößert werden kann.

Während das potentiell Unendliche generell als real möglich akzeptiert wurde, sah Aristoteles das aktual Unendliche als unmöglich an. In der Rezeption der griechische Philosophie durch das Christentum wandelte sich diese Haltung jedoch: Da das aktual Unendliche nicht durch sukzessives Fortschreiten aufgebaut werden konnte, wurde seine Existenz als Beweis der Existenz Gottes angesehen und teilweise sogar mit ihm gleichsetzt.

In der Scholastik ab circa 1100 nach Christus finden sich dann Argumentationen, die man in moderner Sichtweise als Vergleich von Mächtigkeiten mittels eins-zu-eins-Zuordnungen verstehen kann, wobei die Frage nach der realen Umsetzung dieser Zuordnungen teilweise durch theologische Spekulationen umgangen wurde.

Auf solch einer Basis entwickelte Galileo Galilei (1564–1642) seine Überlegungen dazu, dass einerseits mehr natürliche Zahlen als Quadrate von natürlichen Zahlen existieren, da es Nicht-Quadratzahlen gibt, wahrend andererseits die Anzahl der natürlichen Zahlen gleich der Anzahl der Quadrate dieser Zahlen sein muss. Somit machte es für ihn keinen Sinn, im Bereich des Unendlichen nach "kleiner“ oder "größer“ zu fragen. (Er unterschied dabei nicht mehr zwischen aktual und potentiell Unendlichem.)

Generell lassen sich alle diese Argumentationen auf die Diskussion der Gleichheit von gewissen Anzahlen zurückführen; systematische Untersuchungen zu verschiedenartigen Graden des Unendlichen gab es nicht vor Cantor.

Cantor und Dedekind

Die Entdeckung der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen und der Nicht-Abzählbarkeit¨ der reellen Zahlen wurde erst vor wenigen Jahrzehnten von José Ferreirós [6] und Oliver Deiser [4], auch [5], im Detail mathematikhistorisch aufgearbeitet. Insbesondere erwies sich dabei Cantors Verhalten Dedekind gegenuber als – vorsichtig formuliert – nicht besonders glücklich. (Die im Folgenden zitierten Briefe finden sich vollständig in [8], überwiegend aber auch in [7] und zum Teil in [9].)

In einem Brief vom 29.11.1873 teilte Cantor (unter Verwendung der oben zitierten Terminologie) Dedekind mit, dass die Menge der rationalen Zahlen abzählbar sei, ebenso die Menge aller endlichen Tupel natürlicher Zahlen. Ebenso warf Cantor die Frage auf, ob auch die Menge der reellen Zahlen abzahlbar ist oder nicht, ohne einen Beweis für die eine oder andere der Aussagen liefern zu können.

Dedekind reagierte hierauf umgehend in einem leider nicht erhaltenen Brief, in dem er Cantor nicht nur darüber informierte, dass die Menge aller algebraischen Zahlen abzählbar ist, sondern ihm dafür auch einen Beweis mitteilte. In seiner Antwort vom 2.12.1873 konstatierte Cantor, dass dieser den gleichen Gedankengängen folge wie sein eigener der Abzählbarkeit der Menge aller endlichen Tupel natürlicher Zahlen.

Am 7.12.1873 konnte Cantor dann Dedekind seinen allerersten Beweis der Uberabzählbarkeit der reellen Zahlen brieflich mitteilen. Dieser kann aus heutiger Perspektive sogar als "Vorahnung“ des Beweises des Baireschen Kategoriensatzes angesehen werden, siehe

[4]. Damals betrachteten beide Mathematiker ihn aber als zu kompliziert und schickten einander in den nächsten Tagen (Dedekind am 8., Cantor am 9.) in einander kreuzenden Briefen Vereinfachungen der Argumentation.

Dedekinds diesbezüglicher Brief an Cantor ist leider ebenfalls nicht erhalten. In seinenAufzeichnungen findet man jedoch die Bemerkung [8, S.19]:

"Diesen, am 8. December erhaltenen Brief [vom 7.12.1873] beantworte ich ” [= Dedekind] an demselben Tage mit einem Glückwunsch zu dem schönen Erfolg, indem ich zugleich den Kern des Beweises (der noch recht compliciert war) in grosser Vereinfachung wiederspiegele; diese Darstellung ist ebenfalls fast wörtlich in Cantor’s Abhandlung (Crelle Bd.77) übergegangen.“

Das "ebenfalls“ bezieht sich dabei auf Dedekinds Beweis der Abzählbarkeit der algebraischen Zahlen in seiner Antwort auf Cantors Schreiben vom 29.11.1873, über den er notierte [8, p.18]:

"Hierauf habe ich umgehend [...] den Satz ausgesprochen und vollständig bewiesen, dass sogar der Inbegriff aller algebraischen Zahlen sich dem Inbegriffe (n) der natürlichen Zahlen n in der angegebenen Weise zuordnen lässt." (dieser Satz und Beweis ist bald darauf fast wortlich, selbst mit Gebrauch des Kunstausdruckes Höhe, in die Abhandlung von Cantor in Crelle Bd.77 übergegangen, nur mit der gegen meinen Rath festgehaltenen Abweichung, dass nur der Inbegriff aller reellen algebraischen Zahlen betrachtet wird).“

Der Beweis der Abzählbarkeit der (reellen) algebraischen Zahlen stammt also nach Idee und Ausformulierung von Dedekind, und zumindest die Formulierung der im Artikel [1] publizierten Beweisversion fur die Überabzählbarkeit der reellen Zahlen geht ebenfalls auf ihn zurück.

Zwar ist festzuhalten, dass Dedekind die Bedeutung der Kombination der beiden Resultate nicht selbst erkannt hatte, wie er im Anschluss an die zuletzt zitierte Notiz vermerkt [8, S.18]:

"Die von mir ausgesprochene Meinung aber, dass die erste Frage [der Überabzählbarkeit der reellen Zahlen] nicht zu viel Mühe verdiene, weil sie kein besonderes praktisches Interesse habe, ist durch den von Cantor gelieferten Beweis für die Existenz transcendenter Zahlen (Crelle Bd.77) schlagend widerlegt.“

Dennoch ist es mehr als befremdlich, dass Cantor in seinem Artikel [1] Dedekinds Namen überhaupt nicht erwähnt!

Dieses Verhalten hatte fur ihn selbst die Konsequenz, dass Dedekind die Korrespondenz umgehend abbrach, wodurch Cantor seinen im wesentlichen einzigen Partner verlor, mit dem er sich über die im Entstehen befindliche Mengenlehre austauschen konnte. Dabei war ihm nicht einmal klar, was er getan hatte, wie man noch einem Brief von ihm an David Hilbert (1862–1943) vom 15.11.1899 entnehmen kann [7, S.414]. Allerdings hatte Dedekind Cantor den Grund seiner Verärgerung auch nicht mitgeteilt, selbst, als in späteren Jahren die Korrespondenz wieder aufgenommen wurde.

Angesichts der obigen Einschränkungen zur Urheberschaft Cantors an Teilen seiner Arbeit [1] sei noch darauf hingewiesen, dass dort der Beweis der Uberabzählbarkeit der reellen Zahlen nicht mit dem heutzutage üblichen und nach ihm benannten zweiten Diagonalargument geführt wird. Dieses wurde von Cantor erst in der im Juli 1877 vollendeten und 1878 gedruckten Arbeit [2] publiziert.

 

Literatur

Georg Cantor: Über eine Eigenschaft des Inbegriffes aller reellen algebraischen Zahlen.  Journal für die reine und angewandte Mathematik 77 (1874), 258–262; auch in [3, S.115–118].

Georg Cantor: Ein Beitrag zur Mannigfaltigkeitslehre, Journal fur die reine und angewandte Mathematik 84 (1878), 242–258; auch in [3, S.119–133].

Georg Cantor: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts. Hrsg.v. Ernst Zermelo. Verlag von Julius Springer: Berlin 1932, Reprint: Springer: Berlin et al. 2012.

Oliver Deiser: In der Unvollkommenheit des ersten Conceptes“ – Die Entdeckung der Uberabzählbarkeit der reellen Zahlen.¨ ” Jahresbericht der Deutschen MathematikerVereinigung 110 (2008), 163–175.

Oliver Deiser: Zur Verstimmung zwischen Georg Cantor und Richard Dedekind. In K.Scheel, Th.Sonar, P.Ullrich (Hrsg.): In Memoriam Richard Dedekind (1831–1916): Number Theory – Algebra – Set Theory – History – Philosophy, S.96–101. Schriften zur Geschichte der Mathematik und ihrer Didaktik 3. WTM-Verlag: Münster 2017.¨

José Ferreirós: On the Relation between Georg Cantor and Richard Dedekind. Historia Mathematica 20 (1993), 343–363.

Herbert Meschkowski, Winfried Nilson (Hrsg.): Georg Cantor, Briefe. Springer: Berlin et al. 1991.

Emmy Noether, Jean Cavaillès: Briefwechsel Cantor–Dedekind. Hermann: Paris 1937. Teilweise neu herausgegeben von Oliver Deiser unter https://www.aleph1.info am 30.09.2020.

Walter Purkert, Hans Joachim Ilgauds: Georg Cantor 1845–1918. Birkhäuser: Basel et al. 1987.

 

 

 

Um einen Kommentar zu verfassen, müssen Sie sich einloggen bzw. kurz als Gast registrieren.